... Lernen in Neckarbischofsheim

„Das Verschiedensein ist nicht das Problem“

25. Fachtagung der Fachschule für Sozialwesen nahm Inklusion und Teilhabe in den Fokus

Auf das Ausrufezeichen machten gleich mehrere der Referentinnen und Referenten aufmerksam: „Inklusion und Partizipation gelingen!“ Unter diesem Titel fand die Fachtagung der Fachschule für Sozialwesen statt. Die Fachschule gehört zur Bildungs-Akademie der Johannes-Diakonie und feierte mit der 25. Ausgabe der Fachtagung ein Jubiläum. Bei der Traditionsveranstaltung treten Expertinnen und Experten der Behindertenhilfe einmal im Jahr in den fachlichen Austausch miteinander und mit dem Publikum. Zum Jubiläum hatte das Organisationsteam um Schulleiterin Birgit Thoma und Fachschul-Dozent Stephan Friebe mit Inklusion und Teilhabe bewusst ein Leitmotiv aller Fachtagungen in den Mittelpunkt gestellt und namhafte Vortragende eingeladen. Das Interesse beim Publikum war entsprechend: Rund 300 Teilnehmende wollten dabei sein, online oder in Präsenz.

Für Inklusion braucht es "Menschen, die zuhören"

Als Schirmherrin eröffnete Simone Fischer, Landesbeauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderung, die Fachtagung. Sie machte deutlich, dass nur die Beteiligung von Menschen mit Behinderung echte Inklusion schafft. Als Beispiele nannte sie den Landesaktionsplan Inklusion. Gerade nach dem Stillstand der Corona-Pandemie brauche es einen neuen Anlauf zum Abbau von Barrieren. „Dazu helfen Gesetze und Normen, aber auch Menschen die zuhören. Wir brauchen eine inklusive Gesellschaft, die bereit ist menschlich zu sein.“ Als Vorstand der Johannes-Diakonie warf Jörg Huber einen Blick zurück, hob Fortschritte beim Thema Inklusion hervor und nannte als Meilensteine wichtige Regelwerke wie die UN-Behindertenrechtskonvention. Auch die Johannes-Diakonie habe die Herausforderung angenommen und Orte der Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderung geschaffen. Doch sei Inklusion ein langfristiger Prozess, der kontinuierliche Arbeit fordere. „Daher bin ich dankbar, dass wir viele inspirierte Mitarbeitende bei uns haben, die sich für Inklusion einsetzen, zum Beispiel mit der Organisation dieser Fachtagung.“ Zum Jubiläum blickte Stephan Friebe auf vergangene Fachtagungen zurück. „Unser Anliegen war immer, Menschen mit Beeinträchtigung in den Mittelpunkt zu stellen.“ Als Experten und Expertinnen in eigener Sache seien sie auch immer aktive Teilnehmende gewesen. Zugleich sollten die Fachtagungen „Impulsgeber“ für die Fachschule, ebenso jedoch für andere Akteure der Behindertenhilfe sein, nicht zuletzt auch für die Johannes-Diakonie. Hinsichtlich der Inklusion sieht Friebe viele positive Entwicklungen, aber auch eine „Diskrepanz zwischen dem, was wir an der Schule lehren, und dem, was unseren Auszubildenden in deren Alltag oft begegnet“.

Experten und Expertinnen aus Wissenschaft und Lehre

Wie es gute Tradition ist, waren auch zur Jubiläumstagung namhafte Experten und Expertinnen aus Wissenschaft und Lehre eingeladen – und begeisterten mit einer gelungenen Mischung aus Fakten und Eindrücken aus der Praxis. Professor Dr. Wolfgang Hinte analysierte den Begriff der Sozialraumorientierung kritisch. Das Problem aus seiner Sicht: „Alle finden Sozialraumorientierung gut, aber jeder versteht etwas Anderes darunter.“ Hinte räumte in seinem Vortrag mit überkommenen Vorstellungen von Betreuung und Fürsorge auf und hatte dabei viele Lacher auf seiner Seite. Statt bürokratisch organisierte Fürsorge forderte er ein flexibles Netz von Unterstützung und Assistenz, gebildet von professionellen Fachkräften wie auch von Angehörigen und Freunden, in dem der Wille des Menschen mit Behinderung im Mittelpunkt steht und über die jeweilige Assistenz entscheidet. Dr. Reinhard Stähling konzentrierte als früherer Leiter der inklusive Gemeinschaftsschule Berg Fidel in Münster dagegen den Blick auf die Schulen. Aus der früheren Brennpunkt-Schule formte Stähling einen Bildungsort, an dem Inklusion gelebt wird. Seine Erfahrungen mit dem Thema fasste der frühere Direktor für seine Zuhörer per Videoschalte in Grundsätzen für inklusives Schulleben zusammen, zu denen kleine und altersgemäße Klassen, gemeinsames Lernen ohne Noten, aber auch Gemeinschaft und Solidarität gehören. Die Professorin Dr. Sophia Falkenstörfer, Universität Würzburg, sprach bei der Fachtagung über einen „Personenkreis, der oft in Vergessenheit gerät“: Menschen mit komplexen Behinderungen, die häufig intensiver Pflege bedürfen und eigene Bedürfnisse schwer deutlich machen können.

Provokativ und wortgewandt: Raúl Krauthausen

Provokativ und mit deutlicher Kritik am bestehenden System der Behindertenhilfe brachte sich der bundesweit bekannte Aktivist Raúl Krauthausen, Gründer des Vereins „Sozialhelden“ und selbst Mensch mit Behinderung, in die Fachtagung ein. Mit vielen persönlichen Erlebnissen aus der eigenen Biografie machte er deutlich, wo Menschen mit Behinderung nach wie vor auf Barrieren stoßen. Und mit welchen Scheinargumenten ihren Wünschen und Lebensentwürfen (vor allem von behördlicher Seite) oft begegnet wird. Er hinterfragte Barrieren und Bedenken und stellte dagegen den Slogan und Titel seines Vortrages: „Einfach mal machen!“ Heftig kritisierte Krauthausen, dass viel zu oft nichtbehinderte Menschen über das Schicksal von behinderten Menschen entschieden. Dabei hatte er viele Sympathien auf seiner Seite und bekam viel Applaus.

Doch der wortgewandte Aktivist eckte auch an. Das machte unter anderem die Podiumsdiskussion deutlich, zu der ein Teil der Vortragenden unter Moderation von Martin Herrlich, Leiter der Evangelischen Fachschule für Heilerziehungspflege in Schwäbisch Hall, zusammenkam. Sophia Falkenstörfer wies etwa daraufhin, dass Menschen mit komplexen Behinderungen bei allen Forderungen nach mehr Selbstbestimmung viel Unterstützung im Alltag benötigen, vor allem von nichtbehinderten Menschen. Auch Krauthausens Kritik am System der Werkstätten stieß auf Widerspruch, nicht zuletzt von Seiten der Werkstatt-Beschäftigten. Einig war sich die Runde in vielen grundlegenden Forderungen für mehr Inklusion: gemeinschaftlicher Unterricht an Schulen, mehr Beteiligung an der eigenen Zukunftsplanung für Menschen mit Behinderung, weniger bürokratische Hürden, etwa bei der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes. Dessen bisherige Wirkung bezeichnete Johannes-Diakonie-Vorstand Jörg Huber als enttäuschend.

Beispielhaft: Projekt "Inklusive Bildung Baden-Württemberg"

Wie mehr Inklusion gelingen kann, machte bei der Fachtagung das Projekt „Inklusive Bildung Baden-Württemberg“ deutlich. In Zusammenwirken von Hochschulen und Johannes-Diakonie waren dabei von 2017 bis 2020 sechs Menschen mit Behinderung zu Bildungsfachkräften qualifiziert worden. Seit 2020 arbeiten sie am Annelie-Wellensiek-Zentrum für Inklusive Bildung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg in der Lehre. Bei der Fachtagung berichtete zwei von ihnen, Hartmut Kabelitz und Thilo Krahnke, sowie Professorin Dr. Karin Terfloth von den seitherigen Erfahrungen. Ihr gemeinsames Fazit lautete: „Das Verschiedensein ist nicht das Problem, sondern dass wir keine gleichen Chancen haben. Wir wollen Vielfalt lernen und lehren, um herauszufinden, wie man das ändern kann.“

Bilder von der 25. Fachtagung