... Lernen in Neckarbischofsheim

Studenten bekommen Einblicke in Lebenswelten

Mosbach/Heidelberg. Vor Beginn der Vorlesung herrscht im Hörsaal ungewohnte Stille. Fast alle Blicke sind nach vorne gerichtet. Denn vor den über hundert Pädagogik-Studenten sitzt nicht wie üblich eine Professorin, sondern sechs Menschen mit Behinderung. Gleich halten sie ihre erste Vorlesung für die Heidelberg School of Education, die von Universität Heidelberg und Pädagogischer Hochschule getragen wird.

„Die Gruppe hat schon mehrere Seminare gegeben, aber diese Vorlesung ist eine neue Herausforderung für sie“, erzählt Stephan Friebe. Er leitet für die Johannes-Diakonie Mosbach das Projekt „Inklusive Bildung Baden-Württemberg“. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Inklusive Bildung in Kiel werden dabei sechs Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung zu Bildungsfachkräften qualifiziert. Nach Ende ihrer Ausbildung werden sie als Dozenten und Experten in eigener Sache Studierenden sowie Fach- und Führungskräften die Belange von Menschen mit Behinderung in Lehrveranstaltungen näher bringen. Die Qualifizierungsteilnehmer wurden bei einem mehrstufigen Auswahlverfahren aus rund 40 Bewerbern ausgewählt und haben ihre Qualifizierung 2017 begonnen – mit großem Erfolg. „Die Entwicklung der Qualifizierungsteilnehmer hat alle meine Erwartungen übertroffen“, berichtet Friebe. „Und von den Hochschulen, mit denen wir zusammenarbeiten, bekommen wir durchweg positive Rückmeldungen.“

Inzwischen hat die Vorlesung begonnen. Die angehenden Bildungsfachkräfte stellen sich und ihren Lebensweg vor. Hartmut Kabelitz erzählt, wie ein Verkehrsunfall sein Leben als Jugendlicher veränderte. Aufgrund eines Schädel-Hirn-Traumas fällt ihm das Sprechen schwer. Trotz einer Ausbildung als Bürokraft und rund 100 Bewerbungen bekam er keine Anstellung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, sondern arbeitete in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM), „um etwas zu tun zu haben“, wie er erzählt. Er fühlte sich intellektuell unterfordert, bis er durch das Projekt „Inklusive Bildung“ eine erfüllende Tätigkeit bekam.

Bei den Lebensgeschichten von Kabelitz und den anderen Qualifizierungsteilnehmern wird deutlich: Die künftigen Dozenten füllen eine Lücke. Denn viel zu häufig wird in der schulischen und universitären Ausbildung von pädagogischen Fachkräften nur über Menschen mit Behinderung geredet, aber nicht mit ihnen, wie Friebe erklärt: „Durch das Engagement der Bildungsfachkräfte wird Inklusion nicht nur theoretisch vermittelt, sondern im Vermittlungsprozess direkt erfahrbar.“

Die Vorlesung in der Pädagogischen Hochschule ist Teil einer Reihe, die die Heidelberg School of Education anbietet. Darin haben die Teilnehmer des Projekts „Inklusive Bildung“ das Thema  „Schulische Bildung: Umgang mit Chancengleichheit“ übernommen. Die Qualifizierungsleiterin Sarah Maier schlägt für die Studenten den Bogen von den Bildungsreformen der 1960er Jahre bis in die Gegenwart. Sie beschreibt viele Fortschritte von der Forderung „Bildung für alle“ bis zur Schulpflicht für alle Kinder. Trotz dieser Fortschritte seien noch heute viele Benachteiligungen im Bildungssystem vorhanden, erklärt Maier, nicht zuletzt für Menschen mit Behinderung. 

Davon berichten auch die Qualifizierungsteilnehmer. Die meisten von ihnen haben ihre Schulzeit in keiner guten Erinnerung. Sie erzählen den Studenten von fehlendem Respekt bis hin zur körperlichen Gewalt, vom Klaps auf den Hinterkopf, der etwa bei Helmuth Pflantzer das Vertrauensverhältnis zum Lehrer zerstörte. Und viele waren mit der Haltung konfrontiert, „dass Behinderte ja sowieso nichts lernen müssen“. Den angehenden Pädagogen haben die angehenden Dozenten aus ihren Erfahrungen heraus viel mit zu geben. „Überfordert die Kinder nicht“, rät zum Beispiel Anna Neff. „Lernen muss Spaß machen. Dann klappt auch alles.“ Wie ihre Kollegen fordert sie inklusive Schulformen nahe am Wohnort, damit Kinder mit Behinderung bessere Teilhabe- und Bildungschancen haben. „Inklusion ist unser Ziel. Dabei bitte ich Sie mitzumachen“, appelliert sie an die Pädagogen von morgen.

Bei den Studenten kommt die Vorlesung gut an, die mit einer intensiven Fragerunde schließt. „Es war für mich sehr interessant zu erleben, was die Dozenten vom Projekt „Inklusive Bildung“ können und was sie zu sagen hatten“, berichtet anschließend Pia Jungwirth, die im ersten Semester Sonderpädagogik studiert. „Ich habe einen neuen Blick auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung gewonnen.“

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